KARATE
Kampfkunst - Selbstverteidigung - Gesundheit - Lebensphilosophie

Die Geschichte des Karate-dō

von Sensei Maurizio Gerussi


Hier nachfolgend erzähle ich etwas über die Geschichte und die Entstehung des Karate-dō; wie es zum Karate, wie wir es heute kennen, gekommen ist, wo der Ursprung liegt und wer die massgeblich an der Entwicklung des Karate beteiligten Meister waren.
Ich bitte alle Leser:innen und Kampfkunst-Expert:innen um Nachsicht, Verständnis und Entschuldigung dafür, dass ich in meiner Darlegung sicherlich zahlreiche Meister, die zweifellos auch an der Entwicklung des Karate entscheidend beteiligt waren, zum Teil gar nicht oder nur am Rande erwähne. Dies kommt einerseits daher, dass die Anzahl der beteiligten Meister sehr hoch ist und es deshalb den zeitlichen und räumlichen Rahmen sprengen würde um alle auf- und über sie zu erzählen, weshalb ich Prioritäten setzen und mich auf die – aus meiner Sicht – wesentlichen Meister konzentrieren musste; andererseits aber auch von meiner Karate-Herkunft, dem Shōtōkan-Ryū her. Deshalb möge man mir die vielleicht etwas einseitige Darstellung verzeihen.
Im «Stammbaum des Karate-dō» aber (siehe Download) finden sich die Namen vieler Meister wieder, über die in der doch relativ kurzen, kompakten, aber doch ausgiebigen Darlegung nichts erzählt wird.

Ursprung


Die ersten dokumentierten Kampfstile, die sowohl Hand- als auch Fusstechniken aufweisen, sind ca. 6000 Jahre alt und stammen von den Assyrern. Seit jeher haben die Menschen eine Affinität zum Kampf und zum sich miteinander messen. Aber nicht nur bei den Menschen ist es so. Die Natur generell ist auf Konkurrenzkampf und Wettbewerb ausgerichtet. Nur auf diese Weise hat sie sich so weit entwickeln können. Deshalb sind wir Menschen – wie allen anderen Lebewesen auf unserem Planeten auch – grundsätzlich kriegerische und kämpferische Wesen.
Deshalb kann man davon ausgehen, dass Kampftechniken seit Menschengedenken in allen Teilen der Welt, wo Menschen lebten individuell und unabhängig voneinander entwickelt und geübt wurden. Und so wie sich die Menschen grundsätzlich gleichen, so gleichen sich auch diese Kampftechniken und Kampfstile.


Weitere geschichtliche Dokumente gehen auf die Zeiten der Altägypter (2000 v. Chr.), der Griechen (700 v. Chr.) und der Römer zurück.
Die älteste bisher gefundene Überlieferung einer Kampfkunst stammt aus China, wurde Xiangpu genannt und stammt aus dem 13. Jh. v.Chr.
Vajramushti, eine indische Kampfkunst, wurde erstmals ca. 100 Jahre v.Chr. dokumentiert und der erste festgehaltene japanische Sumo-Kampf stammt aus dem Jahre 23 vor Christus.
Auch wenn keine schriftlichen Beweisstücke vorliegen, wurden bestimmt in allen Gebieten, wo Menschen lebten bereits vor Jahrhunderten und gar Jahrtausenden Kampftechniken entwickelt und geübt.
Kampftechniken entwickelten sich weiter zu Kampfstilen und schliesslich zu Kampfkünsten. Diese wurden von überall her nach überall hin exportiert. Zum Beispiel durch Tschingis Khan von Asien nach Westeuropa, oder durch Hannibal, die Römer, Alexander den Grossen, Marco Polo und – in neueren Zeiten – die Asiaten (Chinesen, Japaner, Koreaner u.a.m.) nach Europa, Amerika und Afrika sowie die Europäer nach Asien, Amerika und Afrika.


So geschah es denn auch, dass Kampfkünste durch Aus- und Zuwanderung, von China nach Indien und umgekehrt, von China nach Japan oder Korea und wiederum umgekehrt usw., getragen wurden. Durch vermischen der Kampfkünste, beziehungsweise dadurch, dass die sich als die effektivsten und effizientesten erweisenden Kampftechniken in bestehende Kampfstile und Kampfkünste integriert wurden, und durch Einbezug unterschiedlicher Philosophien, Ansichten und Interpretationen, entwickelten sich heute bekannte Kampfsporte wie Boxen und Ringen und Kampfkünste wie Karate, Kung-Fu, Jūdō, Capoeira, Jiu-Jitsu, Aikidō, Teakwondō usw.


Bodhidharma (470-543)



Bodhidharma wurde am 5. Oktober 470 als 3. Sohn König Sughandas von der Kshatriya-Kaste in Südindien geboren. Wie für die damaligen Königssöhne üblich, wurde auch Bodhidharma in allen höfischen Sitten und Vajramushti, der indischen Kampfkunst, unterrichtet. In Südindien werden die alten Kampfsporttechniken auch heute noch unterrichtet und zum Teil bei orthopädischen Problemen im Ayurveda eingesetzt.
Schon früh fühlte sich Bodhidharma zum Buddhismus hingezogen und fand in Prajnatara, dem 27. Nachfolger von Buddha, einen Meister, der ihn Buddhismus und Yoga lehrte. Es war der Wunsch seines Meisters, dass er die Lehren des Buddha nach China bringen sollte.
Nach dem Tode seines Meisters wurde er der 28. Patriarch nach dem Shakyamuni, dem historischen Buddha. Von da an nahm er den Namen Bodhidharma an.
526, im Alter von 56 Jahren, reiste Bodhidharma (Tamo, Daruma oder Darumi Taishi auf Japanisch, Dat Mor auf Kantonesisch, Puti Da Mo auf Mandarin) über Tibet nach China, um den Wunsch seines Meisters zu erfüllen. Als erstes besuchte er Kaiser Wu Di von der Liang Dynastie. Der Kaiser hatte grosses Interesse am Buddhismus, doch für Da Mo war das Interesse des Kaisers am Buddhismus zu oberflächlich, so dass er den Kaiserpalast nach kurzer Zeit wieder verliess.
Da Mo, wie Bodhidharma in China genannt wurde, reiste weiter und erreichte schliesslich das Shaolin Kloster in der nördlichen Ho Nan Provinz. Die Mönche verwehrten ihm jedoch den Zutritt, da sie Fremde grundsätzlich nicht aufnahmen. Da Mo suchte sich in der Nähe eine Höhle, wo er lebte und die Mauern des Klosters beobachtete.
Das Kloster war zu damaligen Zeiten oft Opfer von Raubüberfällen. Eines Morgens, als die Mönche, die sich in der Nacht in ihrem Kloster verbarrikadiert hatten, von den Zinnen ihres Klosters hinunterschauten, sahen sie lauter tote Räuber vor ihrem Kloster liegen. Sie baten Bodhidharma darauf, in ihr Kloster zu kommen und machten ihn später zu ihrem Patriarchen.
Bodhidharma gilt als der Begründer des Ch'an (Zen) Buddhismus. Die Mönche hatten zwar Meditationsübungen trainiert, ihr körperlicher Zustand aber war in Da Mo’s Augen mehr als jämmerlich. So lehrte er sie altindische Kampfkunst, um sie gegen die Strapazen der Meditationen besser zu wappnen.
Dass sich daraus aber Kung-Fu und Karate entwickelt haben soll, ist doch sehr zu bezweifeln. Denn, wie bereits erwähnt, stammt die älteste dokumentierte Kampfkunst, Xiangpu, aus China und ist über 3000 Jahre alt.
Auch dass Wandermönche im 7. Jh. Kung-Fu (Quanfa) nach Okinawa gebracht und dort gelehrt haben sollen, mag wohl stimmen. Zweifellos aber wurden auch dort bereits Kampfkünste geübt und durch gewisse Quanfa-Techniken ergänzt, woraus sich schliesslich die okinawanische Kampfkunst Te und später Tode, was soviel wie Hand aus China heisst, entwickelte.
Bodhidharma starb im Jahre 543 und wurde in der Nähe des Shaolin Klosters in Shon Er Shan, am Berg des Bärenohrs, begraben.

Kushanku (?-1790) und Shungo Sakugawa (1733-1815)






Im Laufe der Zeit wurde Tode immer weiterentwickelt. So zum Beispiel auch durch den chinesischen Mönch Kushanku, der 1760 anlässlich einer Pilgerreise nach Okinawa kam, sich dort niederliess, Quanfa unterrichtete und schon bald der Lehrer von Shungo (Tode) Sakugawa wurde. Unter der Anleitung von Kushanku, Kreator und Namensgeber einer heute immer noch rege geübten Karate-Kata, aus der die beiden Shōtōkan-Kata Kanku-Dai und Kanku-Sho hervorgingen, entwickelte Shungo (Tode) Sakugawa aus dem Tode schliesslich das Okinawa-Te (Hand aus Okinawa) und lehrte diese Kampfkunst auf ganz Okinawa.


Sokon (Bushi) Matsumura (1797-1889)

Der bedeutendste Schüler von Shungo (Tode) Sakugawa, Sokon (Bushi) Matsumura, entwickelte im frühen 18. Jh. die Stilrichtung Shōrin-Ryū bzw. das Shuri-Te in der früheren Hauptstadt und heutigen Provinzstadt Shuri. Seine Schule war die bedeutendste auf ganz Okinawa und fast alle wichtigen Meister der kommenden Generation sind auf seine Schule zurückzuführen. Erst etwa dreissig Jahre später entwickelte Kosaku Matsumora in der Provinzstadt Tomari aus dem Shuri-Te von Sokon (Bushi) Matsumura das Tomari-Te und weitere zwanzig Jahre später Kanryo Higaonna (auch Higashionna oder Higanuma genannt) in der okinawanischen Hauptstadt Naha die Stilrichtung Shorei-Ryū und das Naha-Te. Sowohl Kosaku Matsumora als auch Kanryo Higaonna waren Schüler von Sokon (Bushi) Matsumura.
Grundsätzlich kann also gesagt werden, dass Sokon (Bushi) Matsumura der eigentliche Urvater des Okinawa Karate ist. Es sind ihm auch die Überlieferung bzw. zumindest die teilweise Entwicklung folgender Kata zu verdanken: Tekki, Patsai (Bassai), Kushanku (Kanku), Jion, Hangetsu, Wankan, Chinte und Gankaku. Diese Kata wurden später hauptsächlich von seinen Schülern Anko Azato und Yasutsune Itosu sowie deren Schüler Gichin (Shōtō) Funakoshi und dem Sohn Funakoshis, Gigō Funakoshi, zur definitiven und heute immer noch gültigen Form weiterentwickelt.
Aus dem Shuri-Te von Sokon (Bushi) Matsumura gingen schliesslich die Stile Shōtōkan-Ryū, Shitō-Ryū, Kyokushin-Ryū, Wadō-Ryū, aus dem Tomari-Te das heute kaum mehr bekannte Isshin-Ryū und aus dem Naha-Te das Gōjū-Ryū hervor.


Anko Azato (1827-1906)
und Yasutsune Itosu (1830-1915)


Schüler von Sokon (Bushi) Matsumura waren unter vielen anderen Anko Azato und Yasutsune Itosu, die Lehrer von Gichin (Shōtō) Funakoshi, dem Vater des Shōtōkan-Ryū-Karate-dō. Zu Beginn des 20. Jh. tauften Anko Azato und Yasutsune Itosu den Namen Okinawa-Te in Kara-Te um, was soviel heisst wie leere (Te) Hand (Kara), also die Kunst der leeren Hand, der Kampf mit leeren Händen, ohne Waffen. Es gibt aber noch den philosophischen Aspekt der Kampfkunst Karate, den Kushanku seinem Schüler Shungo (Tode) Sakugawa, dieser seinem Schüler Sokon (Bushi) Matsumura und dieser wiederum seinen Schülern weitergab. Nämlich jenen Sinn der Leere (Mushin), dass man sich freimacht von allen egoistischen und selbstsüchtigen Gedanken, dass man bescheiden und mutig seine Lebensziele verfolgt. Deshalb beschränkt sich Karate-dō nicht auf das Training, fängt zu Beginn des Trainings an und hört mit dessen Ende auf. Karate-dō ist vielmehr eine Lebensaufgabe. Alle Aspekte des Karate-dō, seien sie physischer, geistiger oder philosophischer Natur, sollen während des ganzen Lebens geübt und nicht trainiert werden. So ist etwa auch der Kampf gegen sich selbst, das stete Überwinden des eigenen Ichs, ein weitaus schwieriger Kampf als der Kampf gegen irgendwelche Gegner. Das Selbst, das Ego, sind die härtesten Gegner. Gerade dieser ideologische Ansatz verunmöglicht eine Vereinbarung mit dem modernen Sport- oder Wettkampf-Karate, dies ist der grundsätzliche Unterschied zwischen Karate-dō und Karate. Aber darauf komme ich später zurück.

Yasutsune Itosu war der äussere Schüler von Sokon (Bushi) Matsumura, der technisch hochbegabte Schüler, während Anko Azato der innere Schüler war, technisch zwar auch begabt, aber mit mehr Hang zu den geistigen und philosophischen Aspekten des Karate-dō. Yasutsune Itosu ist es auch zu verdanken, dass 1905 Karate in den Schulunterricht Okinawas eingeführt wurde. Anko Azato hingegen war der weitaus strengere Lehrer und legte ungemein viel Wert auf die Einhaltung des Dō, des Kodex, von Ehre, Anstand und Respekt. Er war es auch der das «Dōjō-Kun», die Verhaltensregeln, verfasste, die an sich die Seele des Karate-dō verkörpern und folgende fünf Regeln umfassen:

Dōjō-Kun

  1. Hitotsu !  Jin kaku kansei ni tsutomeru koto !
    «Eins ist !  Bemühe Dich stets Deinen Charakter zu vervollkommnen !»
    Diese Regel bezieht sich auf das Verhältnis des Menschen zu sich selbst.
  2. Hitotsu !  Makoto no michi o mamoru koto !
    «Eins ist !  Bewahre den Geist der Aufrichtigkeit und Wahrheit !»
    Diese Regel bezieht sich auf das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt.
  3. Hitotsu !  Doryoku no seishin o yashinau koto !
    «Eins ist !  Übe mit Ausdauer, damit Du Deine Ziele erreichst !»
  4. Diese Regel bezieht sich auf die Verwirklichung des Menschen in seinen persönlichen Lebenszielen.
  5. Hitotsu !  Regi o omunzuru koto !
    «Eins ist !  Ehre die Prinzipien der Etikette !»
    Diese Regel bezieht sich auf die Verhaltensformen die ein Mensch beachten sollte, wenn er von seiner Umwelt verstanden und akzeptiert werden will.
  6. Hitotsu !  Kekki no yû o imashimuro koto !
    «Eins ist !  Hüte Dich vor ungestümem Übermut ! (Verzichte auf Gewalt !)»
    Diese Regel bezieht sich auf die innere Haltung des Menschen zu konfliktfreiem, gewaltlosem, pazifistischem Verhalten.

Anko Azato und Yasutsune Itosu entwickelten die ihnen von ihrem Lehrer Sokon (Bushi) Matsumura übermittelten Kata Tekki, Passai (Bassai), Kushanku (Kanku), Jion, Hangetsu, Wankan, Chinte und Gankaku gemeinsam weiter und kreierten daraus die Kata Tekki Nidan und Tekki Sandan, Bassai-Dai und Bassai-Sho, Kanku-Dai und Kanku-Sho sowie Ji’in und Jitte. Die fünf Heian-Kata sowie die Kata Meikyo, Gojūshiho-Shō und Gojūshiho-Dai hingegen sind alleine Yasutsune Itosu sind zu verdanken.

In der Folge entwickelten viele Meister eigene Stile, die sich durch unterschiedliche philosophische Ansichten und Interpretationen von Kampftechniken voneinander unterschieden:

  • Gichin (Shōtō) Funakoshi entwickelte das Shōtōkan-Ryū;
  • Chojun Miyagi das Gōjū-Ryū;
  • Hironori Otsuka das Wadō-Ryū;
  • Kenwa Mabuni das Shitō-Ryū.

Die Kata Empi, Unsu, Nijushiho und Sochin stammen aus dem Tomari-Te. Die Kata Empi erlernte Kosaku Matsumora von einem chinesischen Shaolin-Mönch namens Wanshu und gab sie, wie die von ihm selbst entwickelten Kata Unsu, Nijushiho und Sochin, weiter an seine Schüler Chotoku Kyan, Choki Motobu und Ankichi Aragaki. Insbesondere Ankichi Aragaki entwickelte die Kata weiter. Kenwa Mabuni, Begründer des Shitō-Ryū, war nicht nur Schüler von Anko Azato und Yasutsune Itosu, sondern auch von Ankichi Aragaki und massgeblich an der Weiterentwicklung der Kata Empi, Unsu und Nijushiho beteiligt. Den letzten Schliff zur definitiven Form die heute geübt wird, erhielten diese Kata allerdings auch von Yoshitaka Funakoshi, in der Folge Gigō Funakoshi oder Waka-Sensei genannt.

Gichin (Shōtō) Funakoshi (1869-1957)

Gichin Funakoshi, der Vater und Begründer des modernen Karate, wurde 1869 auf Okinawa als einziger Sohn einer einfachen Samurai-Familie geboren. Sein Vater war ein Meister im Kampf mit dem okinawanischen Stock (Kon). Seine Kindheit verbrachte er bei seinem Grossvater, einem bekannten konfuzianischen Gelehrten, Philosophen und Mönch. Von ihm lernte er vieles über konfuzianische und buddhistische Philosophie.
Schon als junger Teenager begann er bei Meister Anko Azato mit dem Unterricht in Karate-dō. Anko Azato und Yasutsune Itosu waren überaus strenge Lehrer und für den jungen Gichin war es eine sehr harte Zeit. Zudem war Karate damals noch verboten und musste im geheimen und nachts geübt werden. Funakoshi bildete sich zum Schullehrer aus und arbeitete zunächst als Hilfslehrer in Shuri und später als Hauptlehrer in Naha. Jeden Tag aber übte er Karate-dō bei seinen Lehrern Anko Azato und Yasutsune Itosu und wurde schliesslich selber zu einem Meister. Noch zu Lebzeiten seiner beiden Lehrer lehrte er Karate-dō sowohl in Schulen in Shuri als auch in Naha und erlangte bald einen ausgezeichneten Ruf. Als Spätvierziger schliesslich hängte er seinen Schullehrerberuf an den Nagel und widmete sich ausschliesslich dem Karate-dō.



Als der damalige japanische Thronfolger, der spätere Kaiser Hirohito, auf Okinawa eine Karate-Vorführung erlebte und in Tokio davon berichtete, berief das japanische Schulministerium schliesslich Gichin Funakoshi 1922 nach Japan, damit er seine Kunst vor Autoritäten auf dem Gebiet der Kampfkünste und des Schulwesens demonstriere. In der Folge wurde Karate-dō experimentell in die Ausbildung aufgenommen, beispielsweise an der Keio-Universität in Tokio, wo das erste Dōjō (Raum des Wegs für Meditation und Übungen in den Kampfkünsten) entstand. Unter dem Einfluss Gichin Funakoshis folgten weitere Universitäten dem Beispiel, unter anderen auch die Takushoku-Universität.
Bereits vor dem zweiten Weltkrieg wurde die Weltöffentlichkeit auf die Kampfkunst Karate aufmerksam und begann sich daran zu interessieren. Nun brauchte man jemanden, der die Botschaft des Karate in die Welt hinausbrachte. Als überaus intelligenter und gebildeter Mann, Meister der Kalligrafie und der Dichtkunst, rhetorisch, didaktisch und kulturell hervorragend ausgebildet und ausserordentlich gewandt, war Gichin Funakoshi dafür geradezu prädestiniert.
Er verstand es auch sehr gut das immense technische Wissen, das er von Meister Yasutsune Itosu erhalten hatte, mit den traditionellen und strengen Ansichten von Meister Anko Azato zu verbinden.
Trotz allen modernen und fortschrittlichen Ideen und Ansichten vieler Meister und Schüler des Karate-dō, blieb Gichin Funakoshi seinen tief traditionellen Ansichten treu. 1935 erschien sein Buch «Karate-dō Kyohan», schlicht das Lehrbuch über Shōtōkan Karate-dō. Ein Jahr später eröffnete Gichin Funakoshi die erste Karate-dō Schule in Tokio. Aus dieser Schule, die bis in höchste Kreise einen hervorragenden Ruf genoss, kamen schliesslich Funakoshis beste Schüler hervor: Takeshi Shimoda, Shigeru Egami, Genshin Hironishi und Gigō Funakoshi, Gichin Funakoshis dritter Sohn.
Es ist übrigens einer Anregung Jigoro Kanos, dem Begründer des Jūdō, mit dem Gichin Funakoshi eine tiefe Freundschaft verband, zu verdanken, dass schliesslich auch im Karate-dō Kyu- und Dan-Grade eingeführt wurden.

 Gichin Funakoshi ergänzte auch das Dōjō-Kun seines Lehrers Anko Azato durch 20 eigene Grundsätze:

  1. Karate-dō wa rei ni hajimari, rei ni owaru koto o wasuruna! «Karate-dō beginnt und endet mit Respekt!»
  2. Karate ni sente nashi! «Karate kennt keinen Angriff!» Dieser Grundsatz wird auch dadurch versinnbildlicht, dass jede Kata mit einer Verteidigungstechnik beginnt.
  3. Karate wa gi no tasuke! «Karate unterstützt die Gerechtigkeit!»
  4. Mazu jiko wo shire, shikoshite tao wa shire! «Erkenne dich selbst zuerst, und erst dann andere!»
  5. Gijutsu yoi shinjutsu! «Intuition ist wichtiger als reine Technik!»
  6. Kokoro wa hanatan koto wo yosu! «Lass deinen Geist gehen, indem du ihn befreist!»
  7. Wazawai wa getai ni shozu! «Unglück geschieht stets aus Nachlässigkeit!»
  8. Dōjōs no mino karate to omou na! «Denke nicht, dass Karate nur im Dōjō stattfindet!»
  9. Karate no shugyo wa issho de aru! «Die Ausübung des Karate ist eine Lebensaufgabe ohne Begrenzung!»
  10. Arai-yuru mono wo Karate-Ka seyo, soko ni myomi ari! «Verbinde alles was du tust mit Karate, dann wirst du Myo (die geistige Kraft die einem jeden den Zauber, die Mystik und das Wunderschöne des Lebens offenbart) finden!»
  11. Karate wa yu no goto shi taezu netsudo wo ataezareba moto no mizu ni kaeru! «Wahres Karate ist wie heisses Wasser, das abkühlt, wenn Du es nicht beständig wärmst!»
  12. Katsu kangae wa motsu na makenu kangae wa hitsuyo! «Denke nicht ans Gewinnen, doch denke darüber nach, wie Du nicht verlierst!»
  13. Tekki ni yotte tenka seyo! «Verändere deine Verteidigung deinem Feind gegenüber!»
  14. Tattakai wa kyo-jitsu no soju ikan ni ari! «Ein Kampf verläuft immer so, wie du Kyo (Körper und Geist ungeschützt) und Jitsu (Körper und Geist geschützt) einsetzt!»
  15. Hito no te ashi wo ken to omoe! «Stelle Dir vor, Deine Hände und Deine Füsse seien Waffen!»
  16. Danshi mon wo izureba hyakuman no tekki ari! «Wenn du dein Zuhause verlässt, machst du dir viele Feinde; ein solches Verhalten bringt dir Ärger ein!»
  17. Kamae wa shoshinsha ni ato wa shizentai! «Anfänger müssen alle Stellungen meistern bevor sie sie beurteilen; nur so können sie eins mit ihnen werden!»
  18. Kata wa tadashiku jissen wa betsu mono! « Kata muss korrekt und ohne Änderungen geübt werden, dies wirkt sich auch im Kampf aus!»
  19. Chikara no kyojaku; Karada no shinshuku; Waza no kankyo wo wasaruna! «Hart und weich, Spannung und Entspannung, langsam und schnell – alles verbunden mit der richtigen Atmung!»
  20. Tsune ni shinen kufu seyo! «Denke immer an Kufu (die Regeln), lebe und befolge sie jeden Tag!»

Zusammen mit seinen Schülern erbaute Gichin Funakoshi in Tokio das berühmte Dōjō-Gebäude, das erste Honbu Dōjō (Hauptschule) des modernen Karate-dō, das den Namen Shōtō-Kan (Haus des Shōtō) erhielt. Sein Übername Shōtō, was übrigens Kiefernwellen bedeutet, kommt daher, dass er seine Gedichte jeweils mit Shōtō signierte, weshalb ihm seine Schüler schliesslich diesen Übernamen gaben. Nach seinem Tod nannten einige seiner Schüler den gesamten Stil so, obgleich Gichin Funakoshi selbst diese Bestrebungen nicht unterstützte, da er sich nicht als Begründer eines Stils betrachtete, sondern grundsätzlich von einem einheitlichen Karate-dō ausging.
Von diversen Schülern und Meistern des Karate aber wurde die Forderung nach Wettkämpfen immer lauter. So ging Gichin Funakoshi schliesslich Kompromisse ein und liess zum Beispiel zu, dass sein Sohn Gigō Funakoshi die Zweikampf-Formen Gohon-Kumite (5-Schritt-Kampfform), Sanbon-Kumite (3-Schritt-Kampfform) und Ippon-Kumite (1-Schritt-Kampfform) einführte.
Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges aber trat der sportliche Aspekt des Karate vermehrt in den Vordergrund und vielen Meistern genügten diese Kampfübungen nicht mehr.

Schliesslich gründeten die Meister Isao Obata, Masatoshi Nakayama und Hidetaka Nishiyama 1949 die Japan Karate Association (JKA), um Karate als Wettkampfsport weltweit zu verbreiten. Obwohl Gichin Funakoshi mit der JKA und dieser neuen Ausrichtung des Karate nichts zu tun haben wollte, benutzte ihn die JKA als Aushängeschild. Einige Schüler aber blieben den Ansichten Gichin Funakoshis und der traditionellen Philosophie des Karate-dō treu. Allen voran war dies sein Sohn Gigō Funakoshi, der zusammen mit Takeshi Shimoda die Karate-Techniken und die ihm überlieferten Kata weiter verfeinerte, tiefere und stärkere Stellungen einführte und neue Kata entwickelte.



Es trennten sich aber auch weitere Schüler von Gichin Funakoshi. Nicht weil er die Modernisierung des Karate – sprich den Wettkampfsport – nicht vorantrieb, sondern, im Gegenteil, weil er Kompromisse einging und an der ursprünglichen Tradition nicht unbeirrt festhielt: Shigeru Egami gründete die Shōtō-Kai Organisation, die das traditionelle Karate-dō – eine Kampfkunst ohne Wettkampf – versinnbildlicht und die Gedanken der Verträglichkeit und der Toleranz vertritt, die Funakoshis ursprünglicher Weltanschauung entsprechen. Hironori Otsuka schlug die Wadō-Ryū Richtung ein und Kenwa Mabuni schuf die Shitō-Ryū Organisation.
In etwa auch zu dieser Zeit entwickelte Chojun Miyagi, Schüler von Kanryo Higaonna und Lehrer von Gogen Yamaguchi (genannt die Katze), das Gōjū-Ryū. Sein Nachfolger Gogen Yamaguchi wurde das Oberhaupt der Gōjū-Kai Organisation und gehörte zu den Initiatoren der Bildung der gesamtjapanischen Karate-Föderation im Jahre 1964. Zusammen mit Masatoshi Nakayama ist er für die stufenweise Einführung der sportlichen Wettkampf-Regeln verantwortlich, wodurch Karate zu einer Wettkampf-Sportart wurde.
In Japan entstanden unterdessen weitere Schulen und Stilrichtungen. So schufen beispielsweise Masutatsu Oyama das Kyokushin-Kai und Chojiro Tani das Shuko-Kai. Später, nach dem Tod von Gichin Funakoshi, schossen viele weitere, gar unzählige, Karate-Organisationen wie Pilze aus dem Boden. Alle hier aufzuzählen würde den Rahmen bei weitem sprengen. Vertretend für alle anderen sei deshalb lediglich Shōtōkan Karate International (SKI) von Hirokazu Kanazawa erwähnt.
Gichin (Shōtō) Funakoshi starb am 26. April 1957 in Tokio im Alter von 89 Jahren. Ihm haben wir Karate-Ka ungemein viel zu verdanken. Er wird uns als Vater und Begründer des modernen Karate-dō immer in Erinnerung bleiben.

Kanbun Uechi (1877-1948)

Kanbun Uechi wurde am 5. Mai 1877 in Izumi auf Okinawa geboren. Von Jugend an studierte Kanbun Uechi Bōjutsu bei Motobu Meistern. 1897 flüchtete Kanbun Uechi nach China, einerseits um die militärische Aushebung der Japaner zu umgehen und andererseits, um seinen Traum zu erfüllen, bei chinesischen Meistern Kampfkünste zu erlernen. Zuerst lernte er chinesisches Boxen in der Schule Kugusku bei dem okinawanischen Meister Koho Kojo. Anschliessend ging er nach Fuzhou, Hauptstadt der Provinz Fukien, wo er von 1897 bis 1910 Herbalismus studierte und bei Meister Shuu Shiwa einen Quanfa Stil erlernte. Diesen Stil nannte man damals Pangai-Noon, was soviel bedeutet wie halb-hart, halb-weich, dessen Techniken auf den Bewegungen des Tigers, des Drachen und des Kranichs beruhten. Dabei wurden hauptsächlich Techniken mit offenen Händen oder der Ein-Knöchel-Fäusten geübt. 1910 eröffnete Kanbun Uechi in Nansoue (China) ein Dōjō, wo er drei Jahre lang lehrte. Als ein Mann wegen einer unglücklich angewendeten Technik eines Schülers starb, gelobte Kanbun Uechi nie mehr Kampfkunst zu lehren und kehrte nach Okinawa zurück. Erst viele Jahre später, 1928, begann er in Wakayama, Japan, wieder zu lehren. 1942 baute der Okinawaner Ryuko Tomoyose für Kanei Uechi, den Sohn von Kanbun Uechi, ein Dōjō in Ginowan, Okinawa. Dieses Dōjō wurde später zum Honbu Dōjō des Uechi-Ryū. Kanbun Uechi nannte seinen Stil vorerst Pangai-Noon-Karate-Jutsu ehe er ihn 1945 in Uechi-Ryū umtaufte. Am 25. November 1948 starb Kanbun Uechi in Wakayama, Japan.


Yoshitaka (Gigō) Funakoshi (1906-1945)



Obwohl Gigō, auch Yoshitaka genannt (es kommt darauf an, wie man die Kanji liest), bereits früh, im Alter von 39 Jahren, an Tuberkulose starb, hatte der dritte Sohn von Meister Gichin (Shōtō) Funakoshi wohl den grössten Einfluss auf das moderne Shōtōkan-Karate-dō. Schon im Alter von 7 Jahren wurde bei Gigō Tuberkulose diagnostiziert. Wegen seiner Krankheit war er eigentlich ein schwächliches Kind. Karate-dō aber half ihm sein Leiden zu lindern und sein Wohlbefinden zu verbessern. Damit aber nicht genug: Dank seinem unbändigen Willen und seinem unerschütterlichen Einsatz wurde er sogar zu einem der besten Kämpfer seiner Zeit.
Gichin Funakoshi hatte bereits früh den Wert des Budō, des «Dō», als Weg des Lebens erkannt. Er hatte erkannt, dass wahres Budō bedeutet, das Wesen des Universums anzuerkennen, den Frieden zu bewahren und alle Lebewesen in der Natur zu fördern, zu beschützen und zu pflegen. Der Lebensweg des Budō-Ka, wie auch des Karate-Ka, bedeutet, bis zum Tod zu üben! Budō bedeutet kulturelles Denken! Es bedeutet, die Tradition zu wahren und genau diese Eigenschaften an die eigenen Schüler weiterzugeben. Vor allem aber erfordert es, sich in Geduld zu üben. Budō bedeutet das Leben zu meistern.

Gigō war mit Unterstützung seines Vaters und andern Schülern Gichin Funakoshis, wie Takeshi Shimoda und Shigeru Egami, für die Weiterentwicklung des Karate-dō und der Karate-Technik verantwortlich. Einem Karate, das sich definitiv von dem Karate das man auf dem übrigen Okinawa praktizierte unterschied, einem Karate das einen komplett andern Charakter hatte.
Gigō fing seine formale Karate-Ausbildung mit 12 Jahren an. Er kam natürlich durch seinen Vater schon viel früher mit Karate-dō in Kontakt. Im Buch «Karate-dō: Mein Weg» erzählt Gichin Funakoshi wie er Gigō oft zu seinen Trainings bei Anko Azato und Yasutsune Itosu mitnahm.
Obwohl Gigō nicht sehr gross war, hatte er doch eine enorme Ausstrahlung von Grösse. Er war ein wirkliches Phänomen der Kampfkunst Karate und erlangte sowohl ein sehr hohes technisches als auch mentales Niveau. Gigō wurde von vielen seiner Zeitgenossen sowohl körperlich als auch technisch als einer der besten Karate-Ka angesehen. Shigeru Egami hielt ihn sogar für ein Karate-Genie. In seinen Geschichten erzählte Egami wie Gigō am Makiwara arbeitete. Er übte oft in Kiba-Dachi und beim Schlagen und Treten legte er immer seinen gesamten Körper in die Schläge hinein. Gigō schlug so hart, dass die Makiwaras oft repariert werden mussten.



Es gibt natürlich viele Erzählungen und Überlieferungen und heute ist es sicher schwierig, Wahrheit von Legende zu unterscheiden. Eines aber ist sicher: Gigō Funakoshi war seiner Zeit voraus. Mehr noch als sein Vater war Gigō der technische Schöpfer des modernen Shōtōkan-Karate-dō. Das ursprüngliche Okinawa-Te betonte mehr die Verwendung und Entwicklung der oberen Gliedmassen und des Oberkörpers, hohe Stellungen und vor allem kleine Bewegungen. Gigō veränderte im Zeitgeist des zweiten Weltkrieges das Karate-dō in tiefe, kraftbetonte Stellungen wie Kiba-Dachi und Fudō-Dachi und legte besonderen Wert auf starke Fusstechniken und den Einsatz der Hüften bei jeder Technik. Gigō entwickelte unter anderem Mawashi-Geri, Yoko-Geri-Kekomi, Yoko-Geri-Keage, Ura-Mawashi-Geri und Fumi-Komi. Taiji Kase, ein Schüler von Gichin Funakoshi und der Meisterschüler von Gigō, entwickelte später den Ushiro-Geri. Gigō achtete immer darauf, dass bei den Fusstechniken das Knie vor dem Treten so hoch wie möglich angezogen wurde, viel höher als bei anderen Stilrichtungen, damit die Beintechnik mit mehr Kraft und Geschwindigkeit ausgeführt werden kann. Ein weiterer Punkt war, dass auch bei den Fusstechniken der korrekte Hüfteinsatz speziell geübt wurde.



Das Training bei Gigō war sehr anstrengend, denn er erwartete von seinen Schülern, dass sie ins Training doppelt soviel Energie einsetzten wie in einer echten Konfrontation mit einem Gegner nötig gewesen wäre. Gigō wollte sicher gehen, dass seine Schüler auf eine solche Situation optimal vorbereitet sind. Sein Vater stimmte den Änderungen ohne Widerspruch zu, obwohl er, wenn er Training gab, gewisse Details auf andere Weise als sein Sohn erklärte.
Gigō wurde von seinen Schülern und Trainingskameraden für sein Können hoch respektiert. Unter Gigōs Leitung änderte sich zwischen 1936 und 1945 auch das Kumite-Training. Während sein Vater mehr Wert auf das Kata-Training legte, legte Gigō mehr Wert auf das Kumite-Training. Zuerst entwickelte Gigō das Gohon-Kumite, eine Kampfform die er beim Kendō-Grossmeister Hakudo Nakayama erlernt hatte. Von ihm holte er sich auch viele weitere Inspirationen für die Weiterentwicklung des Shōtōkan-Karate. In der Folge führte Gigō das Kihon-Ippon-Kumite ein, gefolgt vom Jiyu-Ippon-Kumite. Es war auch die Zeit in der er Ten-No-Kata-Omote und Ten-No-Kata-Ura (mit Partner) und Chi-No-Kata entwickelte. Ten-No-Kata wird noch immer geübt, Chi-No-Kata ist über die Jahre leider verloren gegangen. Er passte Kata aus dem Naha-Te, die Kanryo Higaonna und Chojun Miyagi geschaffen hatten, wie Sanchin, Seienchin, Seisan, Sepai und sicher auch andere, den Shōtōkan-Techniken an, änderte, ersetzte und verfeinerte aber auch gewisse Techniken und Stellungen.

1945 schliesslich, führte Gigō den Freikampf, das Jiyu-Kumite ein. An dieser Entwicklung des Shōtōkan-Karate von 1936 bis 1945 waren insbesondere auch Genshin Hironishi und Shigeru Egami sowie andere Karate-Ka, die nicht am Krieg teilgenommen hatten, beteiligt.
1946 erschien das Buch «Karate-dō-Nyumon» von Gigō und Gichin Funakoshi. Gigō hatte den technischen Teil erarbeitet, Gichin die Einleitung und den historischen Teil.
Jeder weiss, dass die Umstände des 2. Weltkriegs, die harten Lebensumstände verbunden mit einem fast schon selbstzerstörerischen Training, mit ein Grund für Gigōs Tod waren.
Es ist einfach darüber zu spekulieren, wie sich Karate weiterentwickelt hätte, wenn Gigō nicht so früh gestorben wäre. Jedenfalls nicht so wie es sich nach dem Tod Gigōs entwickelt hat. In seinem Buch «The Spirit of Karate» hat sich insbesondere Shigeru Egami sehr negativ über die Entwicklung des Karate geäussert, darüber, dass sich Karate in eine Richtung entwickelt hat, in der das Gewinnen einer Meisterschaft oder das Erlernen von Kampftechniken wichtiger ist, als Karate-dō als Lebensweg zu sehen. Mit Gigō würde die Karate-Welt heute sicherlich ganz anders aussehen. Es gäbe keine Trennung zwischen Shōtōkan und Shōtō-Kai, Shōtōkan hätte sich niemals dermassen aufgesplittet in unzählige Verbände und Organisationen, noch wäre das Karate so versportlicht.
Gigō Funakoshi starb am 24. November 1945 in Tokio an den Folgen seiner langjährigen Tuberkulosekrankheit. Mit ihm starb der wirkliche Begründer und wohl grösste Meister in der Geschichte des Shōtōkan-Karate-dō.

Ryusho Otomo (?)

1950 begründete der Mönch Ryusho Otomo auf Okinawa den Stil Mushin-dō-Ryū (Weg des leeren Geistes), den er aus dem Uechi-Ryū Stil und diversen chinesischen Boxstilen heraus entwickelt hatte. Im gleichen Jahrzehnt brachte Ryusho Otomo sein Mushin-dō-Kempo, wie es damals hiess, erstmals nach Frankreich. In den darauffolgenden Jahren kam es nach England, wo es in privaten Clubs Geheimdienst-Agenten und anderen Privilegierten gelehrt wurde.
Mushin-dō-Ryū ist ein Stil des Karate-dō der insbesondere auf die geistigen und gesundheitlichen Aspekte Wert legt. Viele Techniken des Mushin-dō-Kempo entsprechen unveränderten Formen die ursprünglich Bodhidharma entstammen, im buddhistischen Shaolin-Kloster gelehrt und in etlichen buddhistischen Tempeln geübt wurden.
Zu Beginn des 15. Jahrhunderts brachten die Mönche Se-Ke-Ko und Chu-Te-Cho diese Techniken auf die Ryukyu Inseln und wurden dort fortan gelehrt. Von vielen werden Mushin-dō-Ryū und die beiden okinawanischen Stile Akito-Ryū und Jonaburu-Ryū heute als die drei traditionellen Karate-dō-Stile Okinawas angesehen, die praktisch unveränderte Formen meditativer chinesischer Kata enthalten und lehren. Diese drei Schulen bilden eine alternative Linie in der Lehre des Karate-dō zu jener der Meister Shungo (Tode) Sakugawa und Sokon (Bushi) Matsumura. Ryusho Otomos Grossvater Gunto Otomo soll einer der Lehrer von Yasutsune (Anko) Itosu, dem Lehrer von Gichin (Shōtō) Funakoshi gewesen sein.


Tetsuji Murakami (1927-1987)

Tetsuji Murakami wurde am 31. März 1927 in der japanischen Präfektur Shizuoka, einer Stadt am Meer, rund 250 km südlich von Tokio, geboren. Er begann sein Karate-Studium am Alter von 19 Jahren bei Meister Masaji Yamaguchi (einem Namensvetter des Gründers des Gōjū-Kai), der Shōtōkan-Karate-dō lehrte. Er praktizierte ausserdem Kendō, Aikidō und mit Meister Minoru Mochizuki lai-Dō. Im November 1957 kam Tetsuji Murakami auf Einladung von Henry Plee erstmals nach Frankreich, um an der France Martial Arts Academy Karate zu lehren. Tetsuji Murakami war einer der ersten japanischen Meister, die nach Europa kamen, um Karate-dō zu lehren. 1959 gründet er eine eigene Schule (Yoseikan) in Paris, wo er Karate, Aikidō und Kendō lehrte. In den darauffolgenden Jahren unterrichtete er Shōtōkan-Karate-dō in vielen Ländern Europas, in England, Italien, Jugoslawien und der Schweiz, aber auch in Marokko und Algerien. Er gehörte zu den Karate-Pionieren in Europa und prägte die erste Entwicklung des Karate in Europa entscheidend mit.
Als er 1967 wieder mal nach Japan reiste, traf er Meister Shigeru Egami, der ihn eine neue Form von Karate-dō entdecken liess, das Shōtō-Kai, das Shigeru Egami aus dem Shōtōkan-Karate-dō entwickelt hatte und nun im Shōtō-Kan oder Honbu Dōjō von Gichin Funakoshi praktiziert wurde.
Zurück in Frankreich, nach 2 in Japan verbrachten Monaten, widmete er fortan seine ganze Energie dem Shōtō-Kai-Karate-dō Shigeru Egamis. Tetsuji Murakami ist bestimmt einer der wenigen Meister des Karate-dō, der seine Arbeit als Karate-Ka und den eingeschlagenen Weg seines Karate grundsätzlich in Frage gestellt hat. Anstatt sich damit zu begnügen, von seinem guten Ruf zu leben, veränderte Tetsuji Murakami seine Form zu unterrichten. Er versuchte dabei seine Schüler zu überzeugen und sie an seinem neuen Weg teilhaben zu lassen. Viele aber trennten sich von ihm und gingen weiter den Weg des Shōtōkan-Karate-dō in seiner ursprünglichen Form wie ihn Gigō Funakoshi gelehrt hatte. Trotzdem hatten sie in Tetsuji Murakami das lebendige Beispiel eines Mannes vor sich, der die Entsagung zu seinem Lebenssinn machte. Die Entsagung im Sinne des Zen-Buddhismus oder des Yoga und natürlich in der Praxis der Kampfkünste, die mit dem Bewusstsein verbunden ist und weder Ausgleich noch Bestätigung im Wettkampf sucht.
Tetsuji Murakami ging diesen Weg bis zu seinem Tod am 24. Januar 1987 in Paris. Er war ein aussergewöhnlicher Mensch und Praktizierender, leidenschaftlich und anspruchsvoll. Alle Menschen die ihn kannten – ob sie Shōtōkan- oder Shōtō-Kai-Karate-dō ausübten oder nicht – behalten eine unvergessliche Erinnerung.


Taiji Kase (1929-2004)


Taiji Kase wurde am 9. Februar 1929 in Ciba, Japan, geboren. Schon mit 6 Jahren begann er mit Jūdō, in dem er 1944 den 2. Dan verliehen bekam. Im selben Jahr im Februar, im Alter von 15 Jahren, begann er mit dem Studium des Karate-dō im Shōtō-Kan Dōjō unter der Leitung von Gichin und Gigō Funakoshi. Er war durch das Buch «Karate-dō-Kyohan» von Gichin Funakoshi auf Karate gestossen, eine Kampfkunst, die ihm völlig unbekannt war.
Eine Weile übte er beide Kampfkünste parallel, gab jedoch das Jūdō kurz vor seiner Prüfung zum 3. Dan zugunsten des Karate-dō auf. Er übte gelegentlich auch Aikidō bei den Morihei Ueshiba und Noriaki Inoue dem Aikidō-Lehrer von Shigeru Egami.
Mit 16 Jahren, im März 1945, meldete er sich beim Militär um Kamikaze-Pilot zu werden. Bevor er jedoch zum Einsatz kam, war der Krieg zu Ende. Später studierte er an der Sanshu-Universität, wo er von Genshin Hironishi im Karate-dō unterrichtet wurde. 1946 erhielt er den 1., 1947 den 2. und 1949 den 3. Dan in Shōtōkan-Karate-dō.
In den Jahren 1964 und 1965 war er Leiter des Instruktorenkurses der Japan Karate Association (JKA). Er hatte sich der JKA angeschlossen, um sich vollumfänglich und hauptberuflich der Verbreitung des Karate widmen zu können. In diesen Jahren fanden die ersten Auslandaufenthalte von Taiji Kase statt, immer mit dem Ziel, Karate zu verbreiten, unter anderem auch in Südafrika. Ab 1966 unterrichtete er in verschiedenen europäischen Ländern und liess sich letztendlich in Frankreich nieder.
1986 trennte er sich von der JKA und begann eigene Wege zu gehen. Für ihn teilte sich die Geschichte des Karate in drei Phasen ein: die Okinawa-Phase, die Japan- oder Gichin-Phase und die Gigō-Phase. Er persönlich versuchte, das Karate-dō von Gigō Funakoshi wieder zu beleben. Zu diesem Zweck gründete er 1986 zusammen mit Hiroshi Shirai einen eigenen Verband, die World Karate Shōtōkan Academy (WKSA), in dem traditionelles Karate-dō in Anlehnung an das Karate-dō von Gigō Funakoshi gelehrt wurde.
In seinen Trainings legte er besonderen Wert auf das Üben von Kata, die er gern spiegelverkehrt und rückwärts üben liess.
Am 31. Mai 1999 erlitt er einen Herzinfarkt von dem er sich nie richtig erholte. Trotz der Warnung seiner Ärzte, gab er Karate-dō nicht auf, sondern unterrichtete weiter, getreu seiner Lehrer Gigō Funakoshi und Shigeru Egami.
Er starb am 24. November 2004 in Paris im Alter von 75 Jahren. Bis zu seinem Tod unterrichtete er in ganz Europa Gigō-Ryū-Karate-dō.


Kenji Tokitsu (1947)

Kenji Tokitsu wurde am 1. August 1947 in Yamaguchi, Japan geboren.
1958 begann er mit Kendō. 1962 trat er in die High School von Toyora ein und begann im internen Nogi Karate-Dōjō mit Shitō-Ryū-Karate-dō. Parallel dazu begann er auch mit Jūdō-Unterricht.
1964 graduierte er zum 1. Dan in Shitō-Ryū-Karate-dō.
1967 begann er an der Hitotsubashi Universität in Tokio das Studium in Recht und Soziologie und trat dort auch umgehend in das Karate-Dōjō ein in welchem Shōtōkan-Ryū-Karate-dō der JKA gelehrt wurde.
Nach erfolgreichem Abschluss zum lizenzierten Soziologen kam er 1971 nach Paris, Frankreich, um Meister Taiji Kase zu assistieren. Gleichzeitig setzte er sein Studium in Sorbonne fort. Bei Meister Kase graduierte er zum 3. Dan in Shōtōkan-Ryū-Karate-dō.
1974 verliess er die JKA und begann zusammen mit einer kleinen Gruppe von Schülern mit der Entwicklung seines eigenen Karate-dō. Im gleichen Jahr kehrte er für einen Monat nach Japan zurück und übte dort unter der Leitung von Meister Shozan Kubota, einem direkten Schüler von Meister Gichin Funakoshi.
1977 ging er wiederum für einen Monat nach Japan und graduierte unter Meister Shozan Kubota zum 5. Dan in Shōtōkan-Ryū-Karate-dō. Gleichzeitig lernte er Meister Guima, einen früheren Schüler der Meister Itosu und Funakoshi, kennen, der ihm die Kata Gojūshiho lehrte, die sich gänzlich von denen des Shōtōkan-Ryū unterschied.
1979 erschien Kenji Tokitsus erstes Buch «Der Weg des Karate».
1980 lernte Kenji Tokitsu Meister Tsuchiya kennen, einen Meister des Karate-dō und der Geschichte des Karate-dō und übte mit diesem einige der klassischen okinawanischen Kata. Im selben Jahr begann er unter der Leitung von Meister Yo Meiji erstmals mit dem Studium von Tai-Chi-Chuan. In den folgenden Jahren reiste er immer wieder nach Japan und China und bildete sich bei Meistern wie Nishino und Matsuda in den Künsten Singi-Chuan, Bagua-Chuan, Xingyl-Chuan, Baiji-Chuan, Chen-Tai-Chi, Taiki-Ken und Ritsu-Zen aus.
1982 erhielt er das Doktorat in Soziologie.
1983 graduierte er bei Meister Shinkin Giuma in Tokio zum 6. Dan in Shōtōkan-Ryū-Karate-dō und gründete im selben Jahr die Shaolin-mon-Karate-dō Schule in Paris.
1989 studierte er in Japan bei Meister Kuroda Kenjutsu, Iai-dō und Ju-Jutsu.
Im Jahr 2000 begründete Kenji Tokitsu den Karate-dō-Stil Jiseidō-Ryū; der «Weg der Entwicklung des eigenen Ichs durch stetes Üben der Kampfkunst».
Kenji Tokitsu publizierte in all diesen Jahren viele Bücher und Publikationen und erhielt diverse Ehrungen.
2003 erhielt Kenji Tokitsu den 9. Dan. Er lebt in einem kleinen Dorf in den Pyrenäen wo er sein 2004 eröffnetes Jiseidō-Dōjō leitet.


Die Geschichte des Karate-dō und der Stammbaum des Karate-dō können hier nachfolgend oder unter Download heruntergeladen werden.